Allversöhnung – oder doppelter Ausgang der Weltgeschichte?
Exegetische Grundlagen und Entscheidungen
Autor: Prof. Dr. Helge Stadelmann
Pastor Christuskirche, EFG Hohenahr-Erda
Professor für Praktische Theologie, FTH Gießen
Keine billigen Antworten
Wenn es um das Thema „Allversöhnung – oder doppelter Ausgang der Weltgeschichte?“ geht, sollte man es sich nicht zu einfach machen mit den Antworten. Es wäre z.B. zu einfach, wenn man nur einen Bibeltext wie Matth. 13,38ff (von der Weltenernte und dem Verbrennen des „Unkrauts“) nimmt, der vom doppelten Ausgang der Weltgeschichte spricht, ihn zitiert und damit die Frage als entschieden ansieht. Ähnlich wäre es, wenn man aus dem letzten Buch der Bibel zitieren würde, wo in Offb. 22,14+15 deutlich gesagt wird, dass während auf der einen Seite das Leben siegt, es Menschen gibt, die ‚draußen‘ sind, ausgeschlossen von diesem Leben.
Mancher wird sagen: „Mit solchen Versen ist doch alles geklärt!“ Es ist nur so, dass auch diejenigen, die die Allversöhnungslehre vertreten, diese Aussagen Jesu glauben. Sie tun solch einen Abschnitt keineswegs nur ab und sagen: „Naja, das sind strenge Spitzenaussagen im Neuen Testament, die weniger vom Evangelium, weniger von der Liebe Gottes geprägt sind. Wir konzentrieren uns auf die vielen universalen Heilsverheißungen in der Bibel!“ Nein, bibeltreue Vertreter der Allversöhnungslehre ehren durchaus alle Aussagen des Neuen Testaments als Gottes Wort. Sie würden sagen: „Ja, was Jesus hier sagt, wird so stattfinden – aber es ist nicht das Letzte. Gottes Heilsgeschichte ist damit noch nicht zu Ende. Nach Äonen und Äonen werden sich die Parallelen in der Unendlichkeit schneiden!“ Auch andere Stellen, die von ‚ewiger Verdammnis‘, ‚ewigem Gericht‘ sprechen, haben ihr besonderes Gewicht, entscheiden die Sache aber noch nicht alleine. Etwa Matth. 12,32 „Wer etwas redet wider den Heiligen Geist: ihm wird´s nicht vergeben, weder in diesem noch im kommenden Zeitalter“, oder Matth. 25,46 „Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben“, oder entsprechende Stellen im Markus-Evangelium wie 9,47ff „… und wirst in die Hölle geworfen, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht verlöscht“ und 14,21 sowie auch Lk. 16,23ff.
„Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben“ Matth. 25,46
Stellen wie diese sprechen deutlich von der ewigen Verdammnis. Schriftgebundene Vertreter der Allversöhnungshoffnung würden diese Verdammnis auch nicht leugnen, würden aber sagen: „Zu überlegen ist, was das Wort ‚aionios‘ bedeutet: Meint das mit ‚ewig‘ übersetzte Wort ‚endlos‘ bzw. ‚zeitlos‘ – oder sind damit gewisse heilsgeschichtliche Abschnitte im künftigen Zeitalter gemeint, in denen das Gericht stattfindet – und am Ende siegt doch die Liebe Gottes?“ Mit dem Zitieren von Gerichtspassagen aus den Evangelien und den nichtpaulinischen Schriften des Neuen Testaments wären pietistische Allversöhner allein kaum zu überzeugen. Wie wir noch sehen werden, hat dies mit einer ganz bestimmten heilsgeschichtlichen Hermeneutik zu tun.
Auf der anderen Seite dürfen es sich aber auch Befürworter der Allversöhnungslehre nicht zu leicht machen. Nehmen wir einmal an, jemand würde einfach folgende Bibelverse kombinieren, nämlich einerseits 1. Tim. 2,4: „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“, und andererseits Ps. 115,3: „Er kannschaffen, was er will“, Ps. 135,6: „Alles, was Gott wohlgefällt, tut er im Himmel, auf der Erde, im Meer und in allen Tiefen“, sowie vielleicht noch Hiob 23, 13b: „Er macht´s, wie er will.“ In einer Art Syllogismus schließt man dann: Gott will alle Menschen retten – was er will, kann und wird er auch tun – also werden am Schluss alle gerettet! Man reißt dabei die genannten alttestamentlichen Stellen aus dem Zusammenhang und unterlässt es, 1. Tim. 2,4 von inhaltlich viel näherliegenden Stellen wie der in Joh. 3,17 ausgesagten Heilsabsicht und der nach 2. Petr. 3,9 gesetzten Heilsfrist her zu interpretieren.
Andere Allversöhnungsanhänger machen es sich zu einfach, indem sie zunächst aus dem Judasbrief zitieren: „Wie auch Sodom und Gomorra und die umliegenden Städte, die gleicherweise wie diese Unzucht trieben und nach anderem Fleisch gingen, zu einem Beispiel gesetzt sind und leiden des ewigen Feuers Pein“ (V.7); und dann Hes. 16,53ff dagegen stellen: ‚Ich will aber ihr Gefängnis wenden, nämlich das Gefängnis von Sodom und Gomorra und ihren Töchtern und das Gefängnis von Samaria und ihren Töchtern und das Gefängnis deiner Gefangenen samt ihnen‘. Ist damit nicht alles klar? Judas sagt, dass Sodom und Gomorra die Strafe des ewigen Verderbens leiden; aber schon durch den Propheten Hesekiel hat Gott gesagt, dass er (Gott) das Gefängnis Sodoms wenden will. Also wird das ‚ewige Verderben‘ nicht endlos sein!“
Aber hat man bei dieser flotten Kombination den Kontext genügend beachtet? Könnte es sein, dass im Judasbrief – wie sich das vom Wortlaut der Gesamtaussage nahelegt – von den Menschen die Rede ist, die sich damals versündigt hatten und nun das Urteil Gottes tragen müssen, während in der Hesekielprophetie von der Wiederherstellung der Städte in der messianischen Zeit die Rede ist – was aber noch nichts aussagen würde über das ewige Heil der ursprünglichen Bewohner Sodoms und Gomorras?
Allversöhner und Allversöhner sind zweierlei
Zweitens muss man zwischen Allversöhnern und Allversöhnern unterscheiden. Sicher gibt es eine humanistisch-liberal motivierte Lehre von der Allversöhnung, die Gott nur als den ‚lieben Gott‘ kennt und es einfach als inhuman empfindet, wenn von einem Gott die Rede ist, der richtet. Das ‚Gericht Gottes‘ wird dann als etwas angesehen, das in der Bibel den Standard nicht erreicht, der mit dem Evangelium gesetzt ist. In kritischer Manier werden solche Stellen als theologisch minderwertig aussortiert, die einen richtenden Gott zeigen. Manche gehen in ihrem humanistisch-psychologischmotivierten Vorurteil so weit, dass sie alle biblischen Gerichtspassagen nur noch als Niederschlag menschlicher Grausamkeit im religiösen Denken Israels werten.
Aber diese liberale Allversöhnungslehre ist etwas anderes als die pietistisch-biblizistische Allversöhnungslehre. Es ist interessant, dass gerade in den Gegenden unseres Landes, in denen der Pietismus und die Erweckungsbewegungen beheimatet sind, also in Württemberg und im Siegerland, die Allversöhnungslehre stark vertreten ist.
Das hat geschichtliche Gründe, die sich auf das Ehepaar Johanna Eleonora Petersen (1644-1724) und Johann Wilhelm Petersen (1649-1726) zurückverfolgen lassen. Beide waren eng mit den Vätern des Pietismus verbunden. Sie wurden getraut im Haus von Philip Jakob Spener. Eine Patenschaft verband sie mit dem Haus von August Hermann Francke. Und Francke war eine ganze Weile überzeugt, dass die Eheleute Petersen mit ihrer Allversöhnungslehre recht haben könnten. Es gibt einen Briefkontakt zwischen Francke und Spener, in dem Spener deutlich davon abrät, gerade diese Sonderlehre der Petersens zu übernehmen. Trotzdem hat schon die Schrift von Eleonora Petersen über „Das ewige Evangelium von der allgemeinen Wiederbringung aller Kreaturen“ aus dem Jahr 1698 – zunächst anonym herausgekommen – stark auf den entstehenden Pietismus (und noch stärker auf den Radikalpietismus) eingewirkt. Wilhelm Petersen hat dann (vielleicht mit ihrer Unterstützung) zwischen 1701 und 1710 das monumentale dreibändige Werk „Mysterion Apokatastaseos Panton“ herausgebracht und damit zunächst die Väter des Württembergischen Pietismus mitgeprägt, nämlich J. A. Bengel, F. Chr. Oetinger und M. Hahn. Zugleich drang die Allversöhnungslehre Petersens auch in den Berleburger Radikalpietismus und über Hochmann von Hochenau und Jung-Stilling in den Siegerländer Pietismus ein. Beide Eheleute Petersen beriefen sich übrigens auf die englische Böhme-Schülerin, Mystikerin und Visionärin Jane Leade, die durch Visionen die Überzeugung bekam, dass sich am Ende die Parallelen von Gericht und Gnade doch noch schneiden und in der fernen Ewigkeit zusammenfließen werden. (Spätere Visionen zur Allversöhnungshoffnung finden sich auch bei Michael Hahn und Jakob Schmitt).Die Petersens haben für ihre Position zugleich ausführlich biblisch-heilsgeschichtlich argumentiert und so gerade im biblizistischen Pietismus viele Anhänger gefunden. Es geht hier um Christen, die – auch wenn sie die Allversöhnungslehre vertraten – nichts anderes wollten, als die Bibel ernst nehmen und sie in ihrer Ganzheit verstehen. Manche haben ihre Allversöhnungshoffnung nur still für sich geglaubt, andere haben sie als eine Art „höhere Erkenntnis“ in Wort und Schrift verbreitet.
Allversöhnung in Römer 5?
Eine erste Hauptstelle, die immer wieder zitiert wird, steht in Röm. 5,18+19. Hier geht es um Gottes barmherziges Rechtfertigungshandeln für alle: „Wie nun durch eine Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch eines Menschen Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen. Denn gleich wie durch eines Menschen Ungehorsam Viele Sünder geworden sind, also werden auch durch eines Menschen Gehorsam die Vielen gerecht.“
Im Gespräch über Allversöhnung wird diese Stelle als Beleg genommen dafür, dass es am Ende keinen doppelten Ausgang der Weltgeschichte geben wird. So wie zu Beginn der Schöpfung ein einfacher Anfang war, dann aber durch den ersten Menschen die Sünde und damit die Notwendigkeit des Gerichts in die Welt einzogen, so schafft Gott nun am Ende der Tage mit dem Hereinbrechen des neuen Zeitalters in Christus, dem zweiten Adam, die entscheidende Wende. Durch den einen ist das Verderben in die Welt gekommen, durch den anderen kommt nun die Versöhnung in die Welt. Durch Adam wurden alle Sünder – und durch Christus werden alle gerecht.
Durch Adam wurden alle Sünder – und durch Christus werden alle gerecht.
Schaut man aber genauer hin, sieht man: das Ziel dieses Anschnittes Röm. 5,12-21 ist es zu zeigen, dass die Menschen auf die gleiche Weise gerettet werden können, wie sie verloren gehen, nämlich durch das Tun eines anderen! Die Menschen kamen durch die Zurechnung der Sünde Adams unter das Verdammungsurteil (Vv. 12-14). Um der Tat Adams willen stehen alle Nachkommen Adams unter der Herrschaft der Sünde und unter dem Todesurteil Gottes mit der Folge des geistlichen und leiblichen Tods. Selbst wenn in der Zeit vor dem Kommen des Gesetzes persönliche Sünde nicht zugerechnet worden wäre, würde den Menschen doch die Sünde Adams zugerechnet. Der Mensch ist daher nicht erst von Gott getrennt und sterblich, wenn er bewusst sündigt, sondern von Anfang seiner Existenz an, weil ihm von Gott die Sünde Adams zugerechnet wird. Adams Schicksal ist Jedermanns Schicksal.
Dem wird nun die Schicksalsgemeinschaft mit Christus gegenüber gestellt. Nur sind nicht alle Menschen schon auf natürliche Weise mit Christus, dem zweiten Adam, als ihrem Haupt verbunden! Man kann also nicht einfach unter Berufung auf Röm. 5, 18+19 sagen: „Alle haben in Adam gesündigt – alle werden in Christus gerecht. `Alle´ meint immer alle!“ Gerade der Römerbrief macht immer wieder deutlich, dass die Rechtfertigung zwar allen, die zu Christus gehören, zukommt, aber nur so, dass sie durch den Glauben an das Evangelium zu Menschen werden, die ‚in Christus‘ sind und als solche gerechtfertigt sind im Urteil Gottes. „Alle in Adam“ sind also tatsächlich alle menschlichen Geschöpfe. „Alle in Christus“ sind die durch den Glauben Gerechtfertigten. (Ähnlich ist das in Röm. 3,23-24).
Das Ziel der Heilsgeschichte nach 1. Korinther 15: Gott alles in allen!
Der Abschnitt in 1. Kor. 15,22ff beginnt ganz ähnlich, wie die schon behandelte Stelle in Römer 5. Wieder geht es um das, was mit ‚allen‘ geschieht. Aber dann weitet sich die Perspektive auf ein grandioses Endgeschichtspanorama. Wir lesen in 1. Kor. 15,22-28: „Denn gleich wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden…. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allen sei.“ Gerade diese Aussage ‚Gott alles in allen‘ wird immer wieder als ein starkes Argument genommen für die Allversöhnungslehre. Wieder geht es um ‚alle in Christus‘ und ‚alle in Adam‘. ‚Alle in Adam‘ sterben, ‚alle in Christus‘ werden lebendig gemacht; und der Kontext zeigt, dass hier zunächst einmal hinsichtlich des ‚Lebendig-Machens‘ tatsächlich von denen die Rede ist, die ‚in Christus‘ sind: es geht um Christus und die, die zu ihm gehören und bei seiner Wiederkunft auferstehen werden. Paulus skizziert hier (Vv. 23-28) den großen heilsgeschichtlichen Dreischritt: Ostern – Wiederkunft Jesu – und dann das ‚Ziel‘, dass ‚Gott alles in allen’ sein wird. Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn Christus die ‚basileia‘, d.h. seine Königsherrschaft, Gott zurückgeben wird. Die Reihenfolge ist wie in Offb. 19-21: erst die Wiederkunft Jesu; dann seine (tausendjährige) Königsherrschaft; dann der Sieg über Totenreich und Tod mit der allgemeinen Totenauferstehung, dem Weltgericht und dem Anbruch der Neuschöpfung. Entsprechend folgt auch in 1. Kor. 15 auf die Wiederkunft Jesu mit der Auferstehung der Gläubigen die Königsherrschaft Christi, der Sieg über den Tod als dem letzten Feind (V. 26) und dieser Vollendung des Christusreiches die Übergabe der Herrschaft an Gott, den Vater, der damit „alles in allen“ ist (V. 28). Die einen sind gerettet, die anderen unterworfen. Es gibt keine ihm widerstrebende Macht im All mehr. Da ist nicht von einem Rettungshandeln Gottes die Rede, das sich jenseits von Offb. 22 in Äonen und Äonen vollzieht, sondern von einem Zustand am Ziel des königlichen Herrschens Christi nach seiner Wiederkunft, bei dem diejenigen, die zu Christus gehören, Anteil bekommen haben an seiner Auferstehungsherrlichkeit, während die widerstrebenden Kräfte unter seinen Füßen unterworfen sind. So sieht das ‚Gott alles in allen‘ – als Retter und Richter – im Zusammenhang von 1. Kor. 15 aus.
Der Hymnus von Kolosser 1: Alles versöhnt im Himmel und auf Erden
In Kol. 1,15-20 findet sich ein Hymnus auf Christus, der seine Bedeutung für die Schöpfung und Neuschöpfung preist. Er ist das Ebenbild Gottes, der Urheber der Schöpfung sowie der neuen Schöpfung. Durch seine Auferstehung ist er der Erstgeborene aus den Toten. So er in allen Dingen, im Blick auf die alte Schöpfung wie im Blick auf die neue Schöpfung, den Vorrang. Seine Vorrangstellung hinsichtlich der Neuschöpfung wird nun nicht nur mit dem Ostergeschehen begründet, sondern in V. 19+20 zusätzlich mit seinem Versöhnungshandeln am Kreuz. Hier erfolgt jene interessante Aussage, die vielleicht die Kernaussage schlechthin zur Allversöhnungslehre ist: Es gefiel Gott „durch ihn alles zu versöhnen, indem er Frieden machte durch das Blut seines Kreuzes, sei es das auf der Erde, sei es das in den Himmeln.“ Wie ist dieses ‚apokatalassein ta panta‘ (alles versöhnen) zu verstehen? Das ist eine wesentliche Frage. Das Wort heißt: alles verändern, von oben bis unten! Aber in welcher Weise kommt diese Veränderung zustande? Was ändert sich durch das Kreuz von Golgatha im Kosmos?
Der Kolosserbrief gibt darauf in Kap. 2,9-15 eine Antwort. Dort tauchen eine Reihe von Vokabeln wieder auf, die schon im Rahmen des Christushymnus von Kol. 1 eine Rolle spielen (Gottesfülle, Haupt, Mächte und Gewalten, Kreuz). Kol. 2,9-15 ist der Schlüssel zum Verständnis von Kol. 1,19+20. In Kol. 2,8 sagt Paulus zunächst, seine Leser sollten aufpassen, dass sie niemand verführt durch Philosophie, leeren Irrtum und menschliche Überlieferung, die den Elementen des Kosmos entspricht, aber nicht Christus. Und dann wird ab V. 9 begründet, was denn nun christusgemäß ist und warum es nicht lohnt, sich an Menschen oder Mächte zu hängen: „Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit in leibhaftiger Form“ (V.9). Da klingt der Wortlaut von Kol. 1,19 wieder an. Der Apostel greift in diesem Abschnitt, Kol. 2,9-15, die komprimierte Aussage aus dem Christushymnus, 1,19+20, wieder auf und bietet damit seine eigene Interpretation dessen, wie er die schwierige Spitzenaussage des Christushymnus gemeint hat. Das gibt uns den Schlüssel von der Bibel selbst her zu verstehen, was die Aussage von Kol. 1,20 bedeutet, dass es der Gottesfülle gefiel, „durch ihn alles zu versöhnen … im Himmel und auf Erden.“ Die Vokabel „alles versöhnen“ (apokatalassein) wird zwar in Kol. 2 zwar nicht noch einmal zitiert, aber Paulus beschreibt in 2,10-15 umso deutlicher, was mit dem ‚alles (von oben bis unten) verändern / versöhnen im Himmel und auf Erden‘ gemeint ist.
Du bekommst Anteil an der Gottesfülle in Christus, indem dein altes Sündenleben abgeschnitten wird, beerdigt wird, du mit Christus auferstehst zu neuem Leben und deine ganze Schuld vergeben wird um Christi willen, weil er am Kreuz dafür gebüßt hat! Durch dasselbe Kreuz hat er die Mächte besiegt und über sie triumphiert.
Kol. 2,10 wirkt wie eine Überschrift, deren Inhalt anschließend in V. 11-15 entfaltet wird. In V. 10a wird zunächst gesagt: „Und ihr seid in ihm zur Fülle gekommen“, ihr habt Anteil bekommen an der Gottesfülle (von der in V. 9 die Rede war). Zugleich bekräftigt V. 10b, dass Christus „das Haupt … über alle Mächte und Gewalten“ ist. V. 11-14 erklären dann zunächst, wie es zugeht, dass Menschen Anteil bekommen an der Fülle Gottes (womit V. 10a erläutert wird). Und V. 15 erklärt, inwiefern Christus nun das Haupt über die Mächte ist (womit V. 10b näher kommentiert wird). Einerseits sagt Paulus: Du bekommst Anteil an der Gottesfülle in Christus, indem dein altes Sündenleben abgeschnitten wird, beerdigt wird, du mit Christus auferstehst zu neuem Leben und deine ganze Schuld vergeben wird um Christi willen, weil er am Kreuz dafür gebüßt hat! Damit (V. 11-14) ist ein Teil des Versöhnungshandelns Gottes durch das Kreuz Christi ausführlich erklärt. Der andere Teil der Befriedung des Kosmos durch das Kreuz klingt kurz und klar in V. 15 an: Durch dasselbe Kreuz hat er die Mächte besiegt und über sie triumphiert.
Sehen sie, so ist das mit dem Triumph des Gekreuzigten. Nach paulinischer Auffassung entscheidet sich der Ausgang der Weltgeschichte nicht erst in der Zukunft, sondern schon am Kreuz. Dort entscheidet sich das Heil, und dort entscheidet sich die Entmächtigung der Mächte, der Sieg Christi über die Mächte. Es gibt am Ende keinen Dualismus, sondern, gerettet auf der einen und unterworfen auf der anderen Seite, ist am Ende alles unter Christus, unter Gott. Da haben wir wieder das gleiche Bild wie in 1. Kor. 15. Die Versöhnung des Alls ist nach Paulus also nicht ein nach Äonen und Äonen stattfindendes Happyend, wenn auch noch der Satan in die Arme der ewigen Liebe sinkt, sondern eine Befriedung des Alls durch Rettung und Unterwerfung. Alles im Himmel und auf Erden ist damit von oben nach unten verändert (= wörtliche Bedeutung von `apokatalassein ta panta´). Die Schöpfung strebt nicht mehr auseinander. Die einen hat er an sein Herz gezogen; die andern unter seine Füße getan.
Schließlich 1. Timotheus 2,4: Gott will alle retten
Am Schluss sollen einige Gedanken zu der wunderbaren Aussage über Gottes Heilswillen in 1. Tim. 2,4 stehen: „Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Im Kontext dieses Verses geht es um das rechte Beten und Reden in der Gemeinde. In diesem Zusammenhang wird zur Fürbitte für alle Arten von Menschen aufgerufen – Menschen aller Schichten bis hin zu den Fürsten und Königen. Und dann wird ab V. 3 begründet, dass es sich lohnt, für sie alle zu beten. Warum? Weil Gottes Heilswillen nun universal und eben nicht mehr nur partikular ist – partikular wie zu alttestamentlicher Zeit und wie es selbst Jesus seinen Jüngern noch in der Aussendungsrede, Matth. 10, sagte: „Geht nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel!“ Seit Himmelfahrt und Pfingsten wurde den Aposteln offenbart, dass die Botschaft vom Heil nun allen verkündigt werden soll, weil Christus für alle gestorben ist. Schon im Alten Testament, also zu einer Zeit, als Gott nur ein einziges Volk erwählt hatte, wird deutlich, dass Gott über die Grenzen Israels hinaus auch andere im Blick hat mit seinem Heil. Davon spricht etwa Ps. 67,2+3: „…dass man auf der Erde erkenne deinen Weg, unter allen Nationen deine Hilfe!“; oder auch Hes. 18,23 wo die Grundhaltung Gottes deutlich wird: „Sollte ich wirklich Gefallen haben am Tod des Gottlosen, spricht der Herr, und nicht vielmehr daran, dass er von seinen Wegen umkehrt und lebt?“. Im Zuge der fortschreitenden Offenbarung wird deutlich, dass Gott sich nicht mehr nur auf ein Volk oder eine Sorte Mensch oder eine soziale Schicht begrenzt, sondern sein Heilswille für alle gilt und universal ist. Darum geht es in 1.Tim. 2,4. Und deshalb lohnt es sich auch, für Menschen aller Schichten, Stände und Völker zu beten.
Gott ermöglicht den Glaubensgehorsam, aber er erwartet ihn auch.
Es ist nur interessant, dass gerade in Heilsfragen in der Bibel immer wieder eine Spannung zu sehen ist zwischen der Souveränität Gottes – die in Prädestinationsaussagen der Schrift betont ist – und der Verantwortung des Menschen. Gerade in der Heilsfrage ist es so, dass der Mensch als geistlich toter Sünder zwar nicht von sich aus Gott suchen und finden kann; dazu kann ihn nur der durchs Herz gehende Zuspruch des Evangeliums befreien. Aber wenn der Mensch dem Ruf des Evangeliums nicht folgen will, wird er dafür zur Verantwortung gezogen. Gott ermöglicht den Glaubensgehorsam, aber er erwartet ihn auch. Für mich stehen in den Heilsaussagen der Bibel die beiden Aussagen von der Souveränität Gottes und der Verantwortung des Menschen komplementär nebeneinander. Wenn wir nicht über das hinausgehen wollen, was geschrieben steht, sollten wir es bei dieser Komplementarität belassen.Zugleich sollten wir den doppelten Ausgang der Heilsgeschichte in Rettung und Gericht so stehen lassen, wie ihn die Heilige Schrift bis hin zur letzten Seite (Offb. 22,14+15) immer wieder betont, zumal selbst Schriftstellen wie 1. Kor. 15 und Kol. 1+2 nichts anderes lehren, als dass am Ende das Universum in dem Sinne versöhnt sein wird, dass die einen unterworfen und besiegt und die anderen gerettet sein werden. Weder verständliche Wünsche, noch überlieferte Visionen sollten uns dazu bringen, in wohlmeinender Spekulation eine Lehrkonstruktion zu erstellen, bei der sich die Parallelen der Liebe und Heiligkeit Gottes in einem Punkt Omega = Allerrettung der Unendlichkeit schneiden. Es ginge sicher über die Schrift hinaus zu glauben, nach Äonen sinke auch noch der Satan glaubend an Gottes Brust.
Allversöhnung im Sinne der Rettung aller, nein. Aber doch: `All-Versöhnung´ im Sinne eines am Ende befriedeten Universum unter Christus, in dem Gott alleine Gott sein wird, ohne Gegenspieler und rebellierende Mächte und Menschen, ja!
‚Allversöhnung – oder doppelter Ausgang der Weltgeschichte?‘, so hieß unser Thema. Die Antwort dazu war: Allversöhnung im Sinne der Rettung aller, nein. Aber doch: `All-Versöhnung´ im Sinne eines am Ende befriedeten Universum unter Christus, in dem Gott alleine Gott sein wird, ohne Gegenspieler und rebellierende Mächte und Menschen, ja! Einen ‚doppelten Ausgang der Weltgeschichte‘ gibt es in dem Sinne, dass in Konsequenz des Sieges Christi in Kreuz und Auferstehung die einen gerettet an seiner Seite sind, die anderen unterworfen unter Christi Füßen.
Am Ende steht kein Dualismus, sondern über allem der Vater als der heilige und liebende Gott – und Christus als der Herr. Die Konsequenz ist die Anbetung der Macht und Liebe Gottes in seinem Heilsplan – und die Ausbreitung des Evangeliums durch Wort und Gebet, solange es noch geht.